Wie die Evolution den Magnetsensor der Vögel optimiert hat
Zugvögel können bei ihren Wanderungen erstaunlich genau navigieren und nutzen dabei unteren anderem einen magnetischen Kompass. Ein Team um die Biologinnen Dr. Corinna Langebrake und Prof. Dr. Miriam Liedvogel von der Universität Oldenburg und vom Institut für Vogelforschung „Vogelwarte Helgoland“ in Wilhelmshaven hat nun die Genome von mehreren hundert Vogelarten verglichen und dabei weitere Indizien dafür gefunden, dass ein bestimmtes Protein im Auge der Vögel der gesuchte Magnetsensor sein könnte. Die Forschenden stellten fest, dass sich das Gen für das Protein Cryptochrom 4 im Verlauf der Evolution stark verändert hat und bei bestimmten Gruppen von Vögeln verloren ging. Das deute auf eine Anpassung an unterschiedliche Umweltbedingungen hin und stütze die Theorie, dass Cryptochrom 4 als Sensor-Protein dient, schrieb das Team kürzlich in der Zeitschrift Proceedings B der britischen Royal Society.
Auslöser für die Studie waren Untersuchungen an den Universitäten Oldenburg und Oxford (Großbritannien), die zeigten, dass die Magnetwahrnehmung auf einem komplizierten quantenphysikalischen Prozess in bestimmten Zellen der Netzhaut von Zugvögeln beruht. 2021 veröffentlichte das deutsch-britische Team im Fachblatt Nature ihre Ergebnisse, denen zufolge das Protein Cryptochrom 4 höchstwahrscheinlich der gesuchte Magnetsensor ist: Zum einen lässt es sich in der Netzhaut von Vögeln nachweisen, zum anderen belegten sowohl Experimente mit bakteriell hergestellten Proteinen als auch Modellrechnungen, dass Cryptochrom 4 den vermuteten Quanteneffekt als Reaktion auf Magnetfelder zeigt. Interessanterweise stellte sich zudem heraus, dass diese Proteine bei Rotkehlchen, die zu den Zugvögeln zählen, deutlich empfindlicher für Magnetfelder sind als jene der sesshaften Hühner und Tauben. „Die Ursache dafür, dass Cryptochrom 4 beim Rotkehlchen empfindlicher ist als bei Huhn und Taube, muss folglich in der DNA-Sequenz des Proteins zu finden sein“, sagt Hauptautorin Langebrake. Wahrscheinlich sei die Sequenz bei dem nachtaktiven Zugvogel durch evolutionäre Prozesse optimiert worden.
In der aktuellen Studie untersuchte das Team um Langebrake und Liedvogel den Magnetsinn daher erstmals aus einer evolutionären Perspektive. Die Forschenden analysierten dafür die Cryptochrom-4-Gene von 363 Vogelarten vom Zwergkiwi bis zur Singammer. Sie verglichen zunächst deren Evolutionsrate mit der von zwei anderen, verwandten Cryptochromen. Ergebnis ist, dass sich die Gensequenzen der zum Vergleich herangezogenen Cryptochrome bei allen Vogelarten stark ähneln: Sie haben sich offenbar im Verlauf der Evolution kaum verändert. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass sie eine wichtige Rolle bei der Regelung der inneren Uhr spielen – einer Funktion, die für alle Vögeln essenziell ist und bei der Modifikationen stark negative Auswirkungen hätten.
Cryptochrom 4 hingegen erwies sich als sehr variabel. „Das deutet darauf hin, dass das Protein für die Anpassung an spezifische Umweltbedingungen wichtig ist“, erläutert Liedvogel, Professorin für Ornithologie an der Universität Oldenburg und Direktorin des Instituts für Vogelforschung. Diese Spezialisierung könnte der Magnetsinn sein: Ein ähnliches Muster habe man auch bei anderen Sinnesproteinen beobachtet, etwa bei lichtempfindlichen Pigmenten im Auge.
Anschließend warf das Forschungsteam einen genaueren Blick darauf, wie sich die Gensequenz für Chryptochrom 4 im Stammbaum der Vögel entwickelt hat. Aus den Ergebnissen schließen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass insbesondere bei Zugvögeln aus der Gruppe der Sperlingsvögel (Passeriformes) eine Optimierung des Proteins stattgefunden hat. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass sich Cryptochrom 4 durch evolutionäre Prozesse bei den Singvögeln als Magnetorezeptor spezialisiert haben könnte“, so Langebrake.
Eine weitere interessante Erkenntnis: Bei drei Gruppen tropischer Vögel – Papageien, Kolibris und südamerikanischen Schreivögeln, auch Tyrannen genannt – ging die Information für Cryptochrom 4 im Verlauf der Evolution verloren, die Vögel können das Protein also nicht herstellen. Dies deutet darauf hin, dass es keine lebenswichtige Rolle spielt. Doch während Papageien und Kolibris sesshaft sind, handelt es sich bei den Tyrannen um Langstreckenzieher, die ganz ähnlich wie kleine europäische Singvögel sowohl tagsüber als auch nachts unterwegs sind. „Dass sie im Gegensatz zu Rotkehlchen nicht über Cryptochrom 4 verfügen, macht sie zu einem idealen System, um verschiedene Hypothesen zum Magnetsinn zu untersuchen“, sagt Langebrake.
Interessante Fragen sind beispielsweise: Haben die Tyrannen einen Magnetsinn entwickelt, der unabhängig von Cryptochrom 4 funktioniert? Oder sind sie in der Lage, sich ohne Magnetsinn zu orientieren? Eine weitere Möglichkeit ist, dass ihr Magnetsinn die gleichen Charakteristika zeigt wie der von Rotkehlchen, der beispielsweise lichtabhängig ist und durch Radiowellen gestört wird. „Die ersten beiden Fälle würden die Cryptochrom-4-Hypothese enorm unterstützen, während der dritte Fall ein Problem für die Theorie darstellen würde“, betont die Biologin.
Als nächsten Schritt plant das Forschungsteam daher, die magnetische Orientierung bei Tyrannen zu untersuchen und zu klären, ob sie einen Magnetsinn besitzen oder nicht. „Die Gruppe der Schreivögel bietet uns somit ein natürliches Werkzeug, um die Funktion von Cryptochrom 4 und die Bedeutung der Magnetwahrnehmung bei Zugvögeln zu verstehen“, skizziert Liedvogel einen Anknüpfungspunkt für weitere Forschung.
Die genetische Studie ist ein Ergebnis des Sonderforschungsbereichs „Magnetrezeption und Navigation in Vertebraten: von der Biophysik zu Gehirn und Verhalten“, das der Biologe Prof. Dr. Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg leitet und an dem auch das Institut für Vogelforschung beteiligt ist. An der aktuellen Studie wirkten außerdem Forschende des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön mit.
Originalveröffentlichung: Corinna Langebrake et al: „Adaptive evolution and loss of a putative magnetoreceptor in passerines” Proceedings of the Royal Society B. doi.org/10.1098/rspb.2023.2308
Pressemeldung von Universität Oldenburg