Wie ein genetisches Element aus dem menschlichen Darm zum Biomarker werden könnte
Ein weitgehend unerforschter Teil der menschlichen Darmflora ist Thema einer neuen Studie. Plasmide sind kleine genetische Elemente, die außerhalb von Chromosomen vorkommen, häufig in Bakterienzellen anzutreffen sind und einen Einfluss auf die Lebensweise der Mikroben haben können. Die Diversität von Plasmiden in der natürlichen Umwelt ist bislang jedoch kaum verstanden. Ein internationales Team um Prof. Dr. A. Murat Eren vom Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB) hat kürzlich in der Zeitschrift Cell berichtet, dass ein bestimmtes Plasmid eins der häufigsten genetischen Elemente im menschlichen Darm ist. Es könnte als Biomarker dienen – beispielsweise, um Gesundheitsrisiken wie fäkale Verunreinigungen von Gewässern zu identifizieren oder Entzündungen des Dickdarms zu beobachten. Das Team fand heraus, dass das Plasmid im Darm von mehr als 90 Prozent aller Menschen in Industrienationen vorkommt.
Bei Plasmiden handelt es sich um Abschnitte der Erbsubstanz DNA, die außerhalb von Chromosomen vorliegen und in Zellen aller Lebewesen auftreten. „Plasmide sind meist kleine, zusätzliche Genome“, erläutert Eren. Sie können zwischen verschiedenen Bakterienzellen und sogar zwischen unterschiedlichen Arten von Bakterien ausgetauscht werden. Um sich zu vermehren, sind Plasmide auf ihre Wirtszellen angewiesen, die davon manchmal profitieren. „Einige Plasmide enthalten Gene, die ihren bakteriellen Wirten helfen, eine Antibiotikabehandlung zu überleben – sie tragen also zur Verbreitung von Antibiotikaresistenzen bei, einem der drängendsten medizinischen Probleme weltweit“, sagt Eren. Andere Plasmide hingegen verfügen nach bisherigen Erkenntnissen nicht über Gene, die eine nützliche Funktion für ihren Wirt haben. „Diese sogenannten ‚kryptischen Plasmide‘ werden oft als genetische Parasiten bezeichnet. Sie bleiben ein Rätsel für die mikrobielle Ökologie, da sie aus evolutionärer Sicht im Grunde gar nicht existieren sollten“, sagt der Informatiker, der an der Universität Oldenburg Professor für Ecosystem Data Science ist.
Plasmide zu identifizieren war bislang schwierig. Zwar ist es seit einiger Zeit möglich, genetisches Material direkt aus Umweltproben zu extrahieren und so beispielsweise die Mikrobengemeinschaft im menschlichen Darm in ihrer Gesamtheit zu analysieren, ohne dafür Mikroorganismen kultivieren zu müssen. Allerdings erwies es sich als Herausforderung, Plasmide in diesem genetischen Gemisch, dem sogenannten Metagenom, zuverlässig zu erkennen. Um das Problem zu lösen, entwickelte ein Team um Eren einen neuen Ansatz, der auf maschinellem Lernen basiert. Wie das Team kürzlich in der Zeitschrift Nature Microbiology berichtete, identifizierten sie auf diese Weise 68.000 Plasmide in der menschlichen Darmflora. Zudem stellten sie fest, dass ein bestimmtes kryptisches Plasmid mit der Bezeichnung pBI143 in ihrem Datensatz besonders häufig auftrat.
In der in der Zeitschrift Cell veröffentlichten Studie schaute sich das Team dieses Plasmid genauer an. Zu ihrer Überraschung besteht es nur aus zwei Genen: Eins dient der eigenen Vermehrung, das andere hat den Zweck, den Transfer in andere Bakterienzellen zu ermöglichen. Ein weiterer Nutzen ist nicht erkennbar. Um die Ökologie von pBI143 besser zu verstehen, untersuchte das Team insgesamt 100.000 Metagenome, davon stammten 60.000 aus dem menschlichen Darm und 40.000 aus verschiedenen natürlichen Umgebungen. „Wir haben festgestellt, dass pBI143 eine Reihe sehr interessanter Merkmale aufweist“, berichtet Eren. So tragen mehr als 90 Prozent der Menschen in Industrieländern das Plasmid in sich. Zudem gehört es zu den häufigsten genetischen Elementen im menschlichen Darm. „Im Durchschnitt kam es mehr als zehnmal so oft vor wie ein Virengenom, das bislang als häufigstes genetisches Element außerhalb der Chromosomen im menschlichen Darm galt“, so der Forscher.
Weitere Analysen ergaben, dass das Plasmid praktisch nur im menschlichen Darm vorkommt. In Datensätzen, die aus anderen Umgebungen stammten, wie dem Meer, Böden, Pflanzen, den Verdauungsorganen von Tieren oder deren Ausscheidungen, war es dagegen nicht nachzuweisen. Lediglich in Proben von Orten, die vom Menschen beeinflusst sind – etwa Abwasser, Oberflächen in Krankenhäusern oder Laborratten – konnten die Forschenden die charakteristische Gensequenz ebenfalls detektieren.
Diese Eigenschaften brachten das Team auf die Idee, dass pBI143 als Biomarker dienen könnte, etwa als Anzeiger für eine Verunreinigung durch Fäkalien. „Tatsächlich konnten wir zeigen, dass das Plasmid ein empfindlicherer Marker für Verunreinigungen des Trinkwassers ist als derzeit verwendete Standardverfahren“, sagt Eren. Diese setzen auf Vervielfältigung bestimmter Gensequenzen von menschlichen Darmbakterien. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit sieht das Team im Zusammenhang mit entzündlichen Darmerkrankungen, einem medizinischen Problem, von dem alleine in Europa drei Millionen Menschen betroffen sind. Die Forschenden konnten nachweisen, dass bei Personen, die unter chronischen Darmentzündungen leiden, im Metagenom fast viermal so viele Kopien des Plasmids vorhanden sind wie bei Gesunden. Das deute darauf hin, dass man diesen Wert nutzen könnte, um den Verlauf oder die Schwere der Krankheit nicht-invasiv zu überwachen.
Am HIFMB entwickeln Eren und sein Team neue Werkzeuge an der Schnittstelle von Informatik und Mikrobiologie, um natürlich vorkommende Plasmide und andere mobile genetische Elemente auch in den im Ozean lebenden Bakterien zu erkennen und zu charakterisieren. Ihr Ziel ist es, Ökologie und Evolution der Mikroben besser zu verstehen und herauszufinden, wie es ihnen gelingt, sich an ständig wechselnde Umweltbedingungen anzupassen. Auf dieser Basis wollen die Forschenden neue biotechnologische Anwendungen entwickeln und zur Lösung aktueller Probleme beitragen.
Originalveröffentlichungen: Emily Fogarty et al: “A cryptic plasmid is among the most numerous genetic elements in the human gut”, Cell 187, Issue 5, Pages 1206-1222.e16 (2024). doi.org/10.1016/j.cell.2024.01.039
Pressemeldung von Universität Oldenburg