Gesten können in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen haben. Die unterschiedlichen Bedeutungen von Gesten zeigen die Herausforderungen der interkulturellen Kommunikation und unterstreichen die Notwendigkeit eines sensiblen Umgangs mit Symbolen in multikulturellen Gesellschaften.
Nach dem jüngsten Eklat um den türkischen Fußballspieler Merih Demiral, der bei der EM 2024 den umstrittenen Wolfsgruß zeigte, ist eine alte Debatte neu entflammt:
Wie gehen wir mit Gesten um, die in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen haben?
Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die komplexe Beziehung zwischen dem rechtsextremen Wolfsgruß und dem pädagogischen Schweigefuchs – zwei Handzeichen, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, aber grundverschiedene Botschaften vermitteln.
Der Fall Demiral bei der EM 2024
Was war passiert? Der Hintergrund ist relevant, um die Bedeutung für das identische pädagogische Symbol des Schweigefuchses zu verstehen: Das wiederholte Zeigen des Wolfsgrußes durch Demiral bei der EM 2024 hat internationale Aufmerksamkeit erregt.
Die UEFA hat den türkischen Fußballspieler Merih Demiral aufgrund des Zeigens des Wolfsgrußes bei der EM 2024 für zwei Spiele gesperrt. Diese Entscheidung folgt auf die wiederholte Nutzung des Wolfsgrußes durch Demiral. Die UEFA betonte, dass solche extremistischen Symbole im Sport keinen Platz haben und entsprechende Maßnahmen notwendig sind, um ein sicheres und respektvolles Umfeld für alle Beteiligten zu gewährleisten.
Auch andere türkische Fußballspieler wie Cenk Tosun, Emre Belözoğlu und Hakan Çalhanoğlu in der Vergangenheit den Wolfsgruß gezeigt, was zu Kontroversen und UEFA-Untersuchungen führte.
Politisch führte der Fall ebenfalls zu Verwerfungen. Die Botschafter beider Staaten wurden jeweils einbestellt.
Kein neues Phänomen: Der “Doppeladler”-Gruß bei der WM 2018
Dieser Vorfall reiht sich in eine Liste ähnlicher Kontroversen ein, bei denen politische Symbole im Sport für Diskussionen sorgten. Ein bekanntes Beispiel ist der “Doppeladler”-Gruß der Schweizer Nationalspieler mit kosovarischen Wurzeln bei der WM 2018. Diese Geste, die die albanische Flagge symbolisiert, führte zu heftigen Debatten und Geldstrafen durch die FIFA.
Solche Vorfälle verdeutlichen, wie politische Symbole im Sport zu internationalen Spannungen führen können und wie Sportorganisationen darauf reagieren.
Der Wolfsgruß: Symbol mit Schattenseiten
Der Wolfsgruß,
- bei dem Daumen, Ring- und Mittelfinger eine Wolfsschnauze formen,
- während Zeige- und kleiner Finger die Ohren darstellen,
ist das Erkennungszeichen der türkischen rechtsextremen Bewegung “Graue Wölfe”. Er wurzelt tief in türkischen Gründungsmythen, in denen Wölfe als Retter und Stammväter des türkischen Volkes glorifiziert werden.
Die Ideologie der Grauen Wölfe wird von deutschen Behörden als extrem nationalistisch, antisemitisch und rassistisch eingestuft. Zu ihren Feindbildern gehören vor allem Kurden, Juden, Armenier und Christen. Ihr Ziel ist es laut Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), einen homogenen Staat aller Turkvölker unter türkischer Führung zu errichten – vom Balkan bis Westchina.
Politische Instrumentalisierung
Seit den 1960er Jahren wird der Wolfsgruß von der rechtsextremen türkischen Partei MHP und ihrer Jugendorganisation “Graue Wölfe” als Symbol genutzt. Es steht für türkischen Ultranationalismus, Panturkismus und teilweise islamistische Ideologien.
Diese politische Instrumentalisierung hat dem Wolfsgruß eine stark polarisierende Bedeutung verliehen, die weit über die ursprüngliche mythologische Symbolik hinausgeht. Die Verwendung des Wolfsgrußes in politischen und sozialen Kontexten dient oft dazu, extreme nationalistische und rassistische Ideologien zu propagieren.
Der Schweigefuchs: Pädagogisches Werkzeug in der Kritik
Im krassen Gegensatz dazu steht der Schweigefuchs, auch bekannt als Leisefuchs, Flüsterfuchs oder Lauschefuchs. Dieses Handzeichen, das in Grundschulen und Kindergärten weit verbreitet ist, soll Kinder nonverbal zur Ruhe ermahnen. Die Geste ist identisch mit dem Wolfsgruß, was in jüngster Zeit zu Irritationen und Diskussionen geführt hat.
Der Ursprung des Schweigefuchses als pädagogisches Instrument ist nicht eindeutig geklärt. Verschiedene Quellen deuten darauf hin, dass es keinen klaren Erfinder oder ein spezifisches Einführungsdatum gibt. Vielmehr scheint sich die Geste organisch aus der pädagogischen Praxis entwickelt und durch informellen Austausch zwischen Erziehern und Lehrern verbreitet zu haben.
Spekulative Herkunftsaussagen und Popularität
Einige Spekulationen, wie die von der international erfolgreichen Lernplattform Babbel.com (über 16 Millionen Abonnenten seit Gründung) vermuten einen Zusammenhang mit der deutschen Version der TV-Show „Supernanny“ aus den frühen 2000er Jahren. Diese Behauptung lässt sich jedoch nicht durch unabhängige Quellen verifizieren und bleibt daher spekulativ.
Die weite Verbreitung und allgemeine Bekanntheit des Schweigefuchses in deutschen Bildungseinrichtungen deutet darauf hin, dass er möglicherweise schon länger im Gebrauch ist. So wird in einem aktuellen Artikel der Märkischen Oderzeitung erwähnt, dass Lehrer und Kita-Erzieher in Brandenburg „seit Jahrzehnten“ Kinder mit dem Leisefuchs um Ruhe bitten.
Ein prominentes Beispiel für die Beliebtheit des Schweigefuchses in der breiten Öffentlichkeit ist der Comedyfilm “Fack ju Göhte” aus dem Jahr 2013. In diesem Film wird der Schweigefuchs als Teil des deutschen Schulalltags dargestellt:
Die “Fack ju Göhte”-Trilogie war die erfolgreichste deutsche Filmkomödie der 2010er Jahre und zog über 21 Millionen Kinobesucher in Deutschland an.
Die Jugend im Spannungsfeld der Symbole
Für viele junge Menschen mit türkischem, kurdischem oder auch armenischem Migrationshintergrund hat der Wolfsgruß eine komplexe und oft ambivalente Bedeutung. Er dient häufig als Ausdruck kultureller und nationaler Identität, ohne dass die Nutzer sich zwangsläufig mit der extremistischen Ideologie der Grauen Wölfe identifizieren.
In multikulturellen Klassen wird diese Situation durch die Ähnlichkeit zum Schweigefuchs noch komplizierter. Während der Schweigefuchs in deutschen Schulen als harmloses pädagogisches Werkzeug gilt, kann er von Schülern mit verschiedenen kulturellen Hintergründen unterschiedlich interpretiert werden. Für türkischstämmige Schüler kann er als politisches Symbol erscheinen, während kurdische oder armenische Schüler ihn möglicherweise als Provokation empfinden. Auch besteht die Gefahr, dass ein Wolfsgruß unter dem Deckmantel des Schweigefuchses gezeigt wird.
Diese Ambivalenz stellt Schulen und Lehrkräfte vor besondere Herausforderungen. In einer heterogenen Klassengemeinschaft kann die zweideutige Geste auf Unbehagen stoßen und einen Nährboden für Missverständnisse bieten.
Herausforderungen für Bildung und Integration
Die Debatte um den Schweigefuchs stellt Pädagogen vor neue Herausforderungen, insbesondere in multikulturellen Klassen. Das Kultusministerium in Baden-Württemberg hat bereits 2017 empfohlen, auf den Schweigefuchs zu verzichten, nachdem Eltern auf mögliche Missverständnisse hingewiesen hatten.
Die Bremer Bildungsbehörde hat den Schweigefuchs im Juli 2024 sogar als erstes Bundesland ganz verboten.
Experten sind in dieser Frage gespalten. Einige sehen die “Verbannung” des Schweigefuchses als überzogen an und halten die Sorge vor Verwechslungen, insbesondere in Grundschulen, für unbegründet. Andere begrüßen die Maßnahme und betonen die Wichtigkeit des sensiblen Umgangs mit interkulturellen Zusammenhängen.
Die Rolle von Lehrern mit türkischem oder deutschem Hintergrund ist in diesem Kontext besonders wichtig. Sie können als Vorbilder für interkulturelles Zusammenleben dienen und gleichzeitig Schüler für die Themen Rassismus und Rechtsextremismus sensibilisieren. Fortbildungen und Sensibilisierungsmaßnahmen für Lehrkräfte sind daher von großer Bedeutung, um sie auf diese komplexen Herausforderungen vorzubereiten.
Empfehlungen des Deutschen Lehrerverbands
Wie die Wochenzeitung DIE ZEIT berichtet, warnt auch der Deutsche Lehrerverband vor möglichen Verwechslungen in Schulen. Stefan Düll, Präsident des Verbands, empfiehlt eine verstärkte Sensibilisierung der Lehrkräfte. Bei der Verwendung des Schweigefuchses sollte dessen schulische Bedeutung erklärt werden.
Bei Unsicherheiten rät Düll, auf die Geste zu verzichten und alternative Methoden zur Beruhigung von Kindern zu nutzen. Diese Empfehlungen unterstreichen die anhaltende Relevanz und Sensibilität des Themas im Bildungsbereich.
Matthias Schneider von der Lehrergewerkschaft GEW äußerte sich bereits 2017 laut der Schwäbischen Zeitung: “Wenn das Symbol zu Irritationen führen kann, ist es gut, wenn es nicht mehr gebraucht wird.” Er fügte hinzu, dass es noch viele andere Möglichkeiten gebe, um im Unterricht für Ruhe zu sorgen.
Rechtlicher und politischer Zusammenhang
Der Wolfsgruß von Merih Demiral bei der EM 2024 hat in Deutschland eine erneute Debatte über den Umgang mit rechtsextremen Symbolen ausgelöst. Es wird über ein Verbot diskutiert, das zwangsläufig auch den Schweigefuchs betreffen würde, da er eine identische Symbolik hat. Mehrere Parteien aus dem deutschen Bundestag und Politiker haben sich dazu aktuell oder kürzlich geäußert:
- Grüne: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir fordert ein Verbot des Wolfsgrußes. Die Parlamentarische Geschäftsführerin Irene Mihalic unterstützt die UEFA-Untersuchung des Vorfalls.
- CDU: Die Partei unterstützt ein Verbot des Wolfsgrußes und hat in Baden-Württemberg beschlossen, dass eine Mitgliedschaft bei den “Grauen Wölfen” unvereinbar mit einer CDU-Mitgliedschaft ist.
- SPD: Bundesinnenministerin Nancy Faeser verurteilt den Wolfsgruß scharf. Der SPD-Politiker Nils Schmid verweist auf einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages von 2020 zur Prüfung eines Verbots der Ülkücü-Bewegung.
- Die Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) fordern ein Verbot der “Grauen Wölfe” und eine Strafbarkeit des Wolfsgrußes.
- FDP: Die Innenexpertin Linda Teuteberg spricht sich für eine Prüfung eines Verbots der “Grauen Wölfe” aus.
- AfD: Es gibt derzeit keine öffentlich bekannten Äußerungen der rechtspopulistischen AfD zum Wolfsgruß oder zu den Grauen Wölfen im Zusammenhang mit der EM 2024 oder in jüngster Zeit. Die letzte bekannte Position der AfD zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 2020, als die Partei einen Antrag im Bundestag einbrachte, der ein Verbot der Grauen Wölfe forderte. Dieser Antrag wurde abgelehnt, während ein abgeschwächter Antrag der Regierungskoalition und anderer Parteien angenommen wurde.
Trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtungen zeigt sich bei den meisten Parteien eine kritische Haltung gegenüber dem Wolfsgruß. Die Forderungen reichen von Untersuchungen bis hin zu Verboten. Diese parteiübergreifende Ablehnung unterstreicht die Brisanz des Themas in der deutschen Politik.
Während der Wolfsgruß in Österreich seit dem 1. März 2019 gesetzlich verboten ist, gibt es in Deutschland bisher kein solches Verbot. In Frankreich sind die “Grauen Wölfe” als Organisation verboten.
Experten betonen, dass der Wolfsgruß ein rechtsextremes Symbol ist, aber in Deutschland derzeit nicht strafbar. Ein Verbot würde strenge rechtliche Kriterien erfordern und liegt in der Verantwortung des Bundesinnenministeriums.
Das identische Symbol zum umstrittenen Wolfsgruß stellt Pädagogen vor ein Dilemma: Einerseits könnte ein mögliches Verbot des Wolfsgrußes den bewährten Schweigefuchs in Mitleidenschaft ziehen, andererseits wächst das Verständnis für die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung angesichts der gestiegenen öffentlichen Wahrnehmung. Diese unbeabsichtigte Kollision zwischen einem harmlosen pädagogischen Werkzeug und einem politisch aufgeladenen Symbol unterstreicht die Komplexität der Debatte.
Dialog und Verständnis als Schlüssel
Die späte Diskussion – insbesondere erst in den vergangenen Jahren – um die Ähnlichkeit zwischen Schweigefuchs und Wolfsgruß lässt sich durch verschiedene Faktoren erklären. Dazu zählen eine zunehmende Sensibilisierung für politische Symbole, die verstärkte Präsenz der Grauen Wölfe in Deutschland und eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit für das Thema.
Während es auf der einen Seite unerlässlich ist, gegen extremistische Symbole vorzugehen, muss gleichzeitig Raum für kulturelle Vielfalt und pädagogische Praktiken bleiben. Dabei spielen Schulen, Lehrkräfte und soziale Medien eine entscheidende Rolle bei der Förderung eines reflektierten Umgangs mit kulturellen und politischen Symbolen.
Letztendlich geht es darum, eine Balance zu finden zwischen dem Respekt für kulturelle Identitäten und der Wahrung demokratischer Werte – eine Herausforderung, der sich unsere Gesellschaft stellen muss, um ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt zu ermöglichen.